Die Digitalisierung – im Wortsinn eigentlich das Umwandeln analoger in digitale Inhalte – wird heute als digitale Transformation von komplexen Prozessen verstanden. Sie findet in der Wirtschaft, in den Medien, in Behörden und ganz allgemein in der Gesellschaft statt. In der Wirtschaft ist sie zentral und hat hier offenbar in Deutschland einen eher schlechten Stand. Die meisten deutschen Firmenchefs sehen nämlich ihr eigenes Unternehmen als Nachzügler in Sachen digitaler Transformation. In etwa 25 % aller Betriebe fehlt eine entsprechende Strategie gar komplett.
Konzerne als Vorreiter der digitalen Transformation
Eigentlich traut man kleinen, innovativen Start-ups eher eine Vorreiterrolle bei neuen Technologien zu, anderswo in der Welt mag das auch stimmen. Digitale Weltkonzerne wie Microsoft starteten einst als Garagenfirma und nutzten den Vorteil ihrer Wendigkeit, doch in Deutschland beanspruchen große Konzerne eine Vorreiterrolle bei der digitalen Transformation. Das sind die Automobilhersteller und auch die Deutsche Bahn, die im Verlaufe des Jahres 2019 öffentlichkeitswirksam die digitale Transformation ihrer eigenen Strukturen kommunizierten. Die Bahn etwa will ihren Kunden für die Erstattungen von Zugverspätungen einen digitalen Weg anbieten. Auch ein digitales Live-Ticket kommt. Nicht zuletzt soll die Bahninfrastruktur noch stärker digitalisiert werden, um mehr Züge fahren zu lassen und dabei gleichzeitig die Verspätungen zu reduzieren. Dafür nimmt die Deutsche Bahn mehrere Milliarden Euro in die Hand und sucht nun nach passenden Anbietern, die solche Projekte realisieren können. Das sagte der Bahn-Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla (ehemaliger CDU-Politiker) der DPA. Es gäbe beispielsweise zu wenig passende Systemangebote für die Schienenfahrzeuge, man erhalte nur Offerten zu „individuellen Manufakturleistungen“. Die Bahn hat daher eigens eine Digitalgesellschaft gegründet, die nun mit der Industrie gemeinsame Lösungen entwickelt. Diese müssen Hand und Fuß haben, denn immerhin geht es darum, dass die Züge im digitalisierten Schienennetz per Sensoren und Funk geleitet werden. Zum System gehören auch digitale Stellwerke, auf analoge Signale will die Bahn irgendwann komplett verzichten. Pofalla rechnet dadurch mit 30 % mehr Kapazität ohne zusätzliche Gleise, weil Personen- und Güterzüge durch die digitalen Strukturen in dichterer Folge fahren könnten. Gut verknüpfte Daten sollen Störungen reduzieren. Die Praxis bestätigt diesen Optimismus bereits, denn die Strecke Berlin-München ist bereits fast komplett digitalisiert. Hier gingen die Störungen seither signifikant zurück, die Züge sind zu über 80 % pünktlich (deutlich über der sonstigen Bahnquote von 74,9 %). Um diesen Erfolg flächendeckend auszubauen, will die Bahn laut Pofalla nun bis 2040 rund 28 Milliarden Euro investieren.
Digitalisierung im Gros der Unternehmen: Ernüchterung
Der Branchenverband Bitkom hat 2019 eine Umfrage in deutschen Unternehmen zum Thema gestartet, die zu ernüchternden Ergebnissen kommt:
- 58 % aller Vorstände und Geschäftsführer halten das eigene Unternehmen für einen Nachzügler in Sachen digitale Transformation.
- 36 % der Befragten nehmen für sich eine Vorreiterrolle in Anspruch.
- 3 % der Firmenchefs glauben, ihr Unternehmen schaffe den Schritt zur digitalen Transformation nicht mehr, es sei „abgehängt“.
- Tendenziell sind größere Unternehmen bei den digitalen Strukturen und Prozessen weiter vorn als Mittelständler und Einzelunternehmen. Knapp die Hälfte der Firmen mit 501 bis 1.502 Mitarbeitern hält sich digital für gut bis sehr gut aufgestellt. Bei Unternehmen mit über 2.000 Mitarbeitern sind es sogar 71 %.
- 23 % der Unternehmen wollen keine eigene Digitalstrategie in Angriff nehmen. Es handelt sich überwiegend um Kleinstfirmen.
- Praktisch alle Unternehmen mit über 2.000 verfügen über eine Digitalstrategie.
- Insgesamt geben 38 % der Firmen an, eine handfeste Digitalstrategie zu verfolgen.
- Weitere 37 % der Befragten verwiesen auf entsprechende Strategien für einzelne Unternehmensteile.
Bitkom-Präsident Achim Berg: Erfolg funktioniert nur noch digital
Der Bitkom-Chef Berg rät vor allem den KMU zu konsequenten Digitalstrategien, wenn ihre Geschäftsmodelle nicht scheitern sollen. Die Branche und die konkrete Größenordnung – 20 oder 500 Mitarbeiter – sei dabei zunächst zweitrangig, so Berg. Die „analoge Sichtfahrt“ werde schon alsbald nicht mehr genügen, sagte der Experte. Er sieht den Mittelstand in einer besonderen Pflicht, denn er ist das Rückgrat unserer Wirtschaft. Die repräsentative Umfrage erfasste die Meinungen in 502 deutschen Unternehmen mit mindestens 20 Mitarbeitern.
Was sagen Dax-CEOs zur digitalen Transformation?
Dieser Frage ging der Bildungsanbieter WBS-Gruppe nach, indem er die Reden auf Hauptversammlungen der Dax-Konzerne auf entsprechende Stichworte scannte und die Ergebnisse analysierte. Bedeutsam ist diese Untersuchung, weil Schätzungen davon ausgehen, dass in Deutschland bis 2035 eine Job-Umwälzung (verlorene Jobs vs. neu entstehende) in einer Größenordnung von rund 1,5 Millionen stattfinden wird. Der digitale Wandel wird demnach per saldo keine Jobs kosten, aber viele Umschulungen erfordern. Von den Dax-Konzernen erwartet man, dass sie in diesem Prozess eine Vorreiterrolle einnehmen. Hier die Ergebnisse der WBS-Untersuchung:
- 62 Stichworte nannte der Wirecard-Chef Markus Braun zur digitalen Thematik. Dazu gehörten Schlagworte wie 5G, künstliche Intelligenz, Automatisierung und digitale Transformation oder digitaler Wandel.
- 32 Mal griff der Henkel-Vorstand Hans van Bylen das Thema schlagwortartig auf.
- 28 Nennungen kamen von Reinhard Ploss, Vorstandsvorsitzender von Infineon.
- Je viermal tippten Rolf Martin Schmitz (RWE) und Frank Appelt (Deutsche Post) das Thema an.
- Zweimal griff es Stephan Sturm (Fresenius) auf.
- Nur ein digitales Stichwort nannte Rolf Buch (Vonovia).
Für die Umweltthematik hatte WBS übrigens dieselbe Analyse durchgeführt – mit gänzlich anderen Ergebnissen.
Was bedeutet eigentlich Digitalisierung konkret?
Konkret bedeutet sie den Einsatz von digitalen Technologien, wozu auch der Computer (ohne Internet) gehört. Daher findet sie im Grunde schon seit den 1970er Jahren statt und wird – wenn auch mit anderen Termini – seither schon thematisiert. Dass sie heute so bedeutsam ist, liegt am disruptiven Übergang zur Onlinegesellschaft. Natürlich gibt es auch andere bahnbrechende Technologien wie KI, Blockchain & Co., doch einen wirklichen Bruch (eine Disruption) mit früheren Informations- und Produktionsmodellen schuf nur das allgemein verfügbare Internet, zu dem auch das IoT gehört. Letzteres revolutioniert aktuell zusammen mit Blockchain- und DAG-Technologien (Directed Acyclic Graph, ebenfalls eine dezentrale Datenbanktechnologie) die industrielle Produktion. Fabriken arbeiten vollautomatisch, die Maschinen bezahlen sich sogar gegenseitig mit Kryptowährungen. Mithilfe von vernetzter ERP (Enterprise Resource Planning) ermitteln die Server von Unternehmen und ihren Lieferanten automatisch den Lieferbedarf und auktionieren ebenso automatisch die Preise. Das geschieht in Sekunden, ohne solche digital vernetzten Systeme müssen sich Verhändler beider Seiten tagelang zusammensetzen. Dass daher diejenigen Unternehmen, welche den digitalen Anschluss verpassen, schon in kürzester Zeit nicht mehr konkurrenzfähig sein werden, leuchtet sehr schnell ein. Auch Handwerker und Dienstleister digitalisieren sich, beispielsweise mit Apps für die Baustellenplanung. Wenn nun ein KMU wissen will, inwieweit es schon digital transformiert ist, sollte es Antworten auf diese Fragen finden:
- Kommt im Unternehmen eine effiziente Software zum Einsatz?
- Sind BI-, ERP- und CRM-Systeme (bei produzierenden Unternehmen: das IoT) im Einsatz? (BI: Business Intelligence, CRM: Customer Relationship Management)
- Haben die Mitarbeiter darauf mobilen Zugriff?
- Gibt es Softwaretools für eine effiziente interne Kommunikation? Slack wäre beispielsweise eine Lösung.
- Nutzt das Unternehmen noch Microsoft Excel? Es gibt bessere Softwarelösungen.
- Werden noch On-Premise-Lösungen verwendet? Das sind Programme, die nur auf einem lokalen Server oder gar nur auf einem Rechner laufen. Sie könnten in eine Public Cloud umziehen, damit die Mitarbeiter kollaborativ (vernetzt mit gleichzeitigem Zugriff auf Dateien) arbeiten können.
Wie gut versteht die deutsche Öffentlichkeit die digitale Transformation?
Im internationalen Vergleich wohl eher schlecht. Hierzu hat das internationale Social Network Internations eine Befragung unter Expatriates durchgeführt. Das sind Personen, die dauerhaft außerhalb ihres Geburtslandes leben und damit über gute Vergleichsmöglichkeiten verfügen. Unter den Befragten waren dauerhaft im Ausland lebende Deutsche (die freilich gelegentlich einen Heimaturlaub antreten) und dauerhaft in Deutschland lebende Ausländer. Einheitlich vergeben sie an unser Land in Bezug auf die digitale Transformation und das Wissen darum in der deutschen Öffentlichkeit schwache Noten. Unter 68 verglichenen Ländern schaffte es Deutschland nur auf Platz 53.